Guten Morgen,
Ich beginne mit einem kurzen Gedicht:
Im feindlichen Gebiet.
Bedrohlich bewegen sich
sogar die Binsen.
Diese Zeilen schrieb Clirim Muca, ein gebürtiger Albaner, der jetzt in Italien lebt.
Wenn sich bei uns Binsen bewegen, liegt das meistens am Wind. Wir denken uns nichts dabei. Geschieht das in einem Land, in dem mit Gewalt zu rechnen ist, kann sich alles als gefährlich erweisen. Krieg erschüttert alle Sicherheiten und Gewissheiten. Gewalt hinterlässt tiefe Spuren in den Menschen, die sie erleben mussten. Das wissen wir.
Das aktuellste Beispiel ist der grausame Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. Zur Frage „Wie es mir geht“ schrieb der Historiker Amir Teicher aus Tel Aviv am 18. Oktober in der Süddeutschen Zeitung: „…wir müssen so viele Wunden heilen und so viele Tote begraben und so viele Geiseln befreien, und wir müssen die Kinder beruhigen und das Abendessen kochen.“ Das ist die Realität gerade in diesem Moment – nicht nur in Israel, sondern an vielen Orten, an denen Gewalt herrscht.
Der Krieg im Nahen Osten wühlt auch hier bei uns unser friedliches Zusammenleben der verschiedenen Kulturen und Religionsgemeinschaften auf. Die Strategie der Hamas, sich in Gaza hinter Zivilisten zu verstecken und sie als Opfer billigend in Kauf zu nehmen, geht leider auf. Es sterben Menschen, auf beiden Seiten. Ideologie droht jetzt alles zu überlagen.
Wir fragen uns: Haben wir denn nicht aus der Vergangenheit gelernt? Muss all das Leid immer wieder von vorne beginnen?
Die nationalsozialistische Ideologie der Verführung eines ganzen Volkes mündete in den Zweiten Weltkrieg. Die Schlacht um Stalingrad jährt sich dieses Jahr zum achtzigsten Mal. Das Leiden der Soldaten und der dort verbliebenen Zivilbevölkerung ist vielfach beschrieben worden und zugleich kaum fassbar. Schätzungsweise starben allein bei dieser Schlacht über zwei Millionen Menschen, weshalb sich dieser Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs besonders in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat. Die ungeheuerlichen Ausmaße und Folgen des Zweiten Weltkriegs sind einzigartig in der Geschichte: Über 60 Millionen Menschen weltweit, mehr als die Hälfte von ihnen Zivilisten, verloren ihr Leben durch kriegerische Handlungen, systematischen Völkermord, Bombenangriffe, Flucht, Vertreibung und politische Verfolgung. Kaum eine Familie blieb verschont.
Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist jetzt auf den Krieg in Nahost gerichtet. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht unterdessen weiter. Und viele andere Kriege auch.
In der Ukraine herrscht seit dem 24. Februar 2022 Krieg. Ein Ende ist nicht absehbar. Das macht uns müde und mürbe. Wir möchten am liebsten nicht mehr daran denken, doch auch dann gehen der Krieg und das Leiden weiter. Heute wird in der Ukraine wieder an den gleichen Orten wie im Zweiten Weltkrieg getötet, gefoltert, geplündert und vergewaltigt. Die Abwehr des russischen Angriffs ist nicht nur für die Ukraine, sondern auch für das freie, demokratische Europa von existenzieller Bedeutung. Unsere Unterstützung ist auch in Zukunft wichtig.
Frieden ist mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg. Frieden ist in demokratischen Gesellschaften untrennbar mit Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verbunden. Deutschland und Frankreich, früher jahrhundertelang sogenannten „Erzfeinde“, zeigen, dass Versöhnung möglich ist, ja sogar Freundschaft unter ehemaligen Feinden. Das ist ein Lichtblick, der uns Hoffnung gibr.
„Friede ist schwer zu schaffen und schwer zu finden. Und doch sehnen wir uns danach, nicht nur nach dem großen Frieden am Ende eines Krieges, sondern auch nach dem kleinen Frieden in unserem eigenen privaten Leben, ein Leben in Frieden mit uns selbst und unserer kleinen Welt.“ Das sagte der Schriftsteller Salman Rushdie, nachdem er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hatte, vor kurzem in seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche.
Ein Leben in Frieden – das wünsche ich uns und allen Menschen.
Cord Petersilie